Ein dickes Paket liegt auf dem Schreibtisch. In ihm stecken, fein säuberlich auf Pappe aufgeklebt, Eintrittskarten für eine Besteigung des Kölner Doms, für einen Stehplatz beim Spiel des 1. FC Köln zum Preis von nur einer halben Mark, außerdem für einen Besuch der Wiehler Tropfsteinhöhle und der Kölner Bundesgartenschau, alles aus dem Jahr 1957. Eine BP-Autokarte aus dem gleichen Jahr liegt ebenfalls bei, in winziger Schrift versehen mit 77 Anschriften ehemaliger Mitschüler. Schließlich leuchtet dem Betrachter auf hellweißem Papier aktuelles Material entgegen. “Nuestros pequenos hermanos”, abgekürzt “nph”, zu Deutsch: “Unsere kleinen Brüder und Schwestern”, so nennt sich ein Kinderhilfswerk, das in mehreren Ländern Lateinamerikas insgesamt 3.500 Kinder und Jugendliche in eigenen Schulen, Ausbildungswerkstätten und auch Krankenstationen betreut. Ein Jahresbericht gibt dem Leser hierüber genaueren Aufschluss.
Möbelmesse in Köln, Januar 2013. Auf dem Stand der Möfa treffen wir Ulrich Klein, Jahrgang 1937. Er ist das, was man heute gerne einen “jungen Alten” nennt: Körperlich fit, umtriebig, vielfältig interessiert, gesprächsbereit. Was die Möfa ist, muss ihm allerdings niemand erklären. Denn er gehört zum ersten Jahrgang, der im damals neu errichteten Schulgebäude in Köln unterrichtet wurde. Vor dem Möfa-Stand werden schnell alte Erinnerungen wach. Es sind zunächst die Anekdoten, die im Strom der Erinnerung besonders lebendig geblieben sind: an Mitstudierende des Wohnheims, an Schneeballschlachten auf dessen Flachdach, an Fußballturniere der ersten drei Klassen gegeneinander, an schulische Exkursionen und eigene Wochenenderlebnisse. Natürlich aber auch an Fächer, Lehrer, Prüfungen.
Schmunzelnd berichtet unser Gesprächspartner außerdem von seiner Ankunft an der Möfa. Weil die Lehrgänge in Köln von Anfang an bei jungen Berufseinsteigern auf außerordentlich reges Interesse stießen, waren zunächst Übergangslösungen für die Zimmer des Wohnheims notwendig. Zu einem Etagenbett wurde jeweils noch zusätzlich ein Schlafsofa für einen dritten Bewohner hinzugestellt. Ulrich Klein hatte hierbei Glück, einer seiner Mitstudierenden nicht. „Wäre ich trotz Regen von Hildesheim mit meinem Roller direkt nach Köln durchgefahren, müsste ich jetzt nicht jeden Abend mein Bett richten“, beklagte sich dieser in den Folgemonaten häufiger.
Wir versichern Ulrich Klein, das die heutige Situation im Wohnheim bei weitem komfortabler ist. Später nehmen wir seine Tagebuchaufzeichnungen zur Hand. Dort ist unter dem Datum des 30. April 1957 notiert, dass eine Woche nach dem Unterrichtsbeginn um die achtzig Autos vor dem Schulgebäude vorfuhren. Das war aufsehenerregend für Studierende der Fünfzigerjahre und hatte einen konkreten Grund: Die Fachschule, schon 1938 in Fürstenwalde bei Berlin gegründet und in den Nachkriegsjahren zunächst provisorisch auf Schloss Wöbbel untergebracht, erlebte jetzt den Neubeginn am Kölner Standort. Vor wichtigen Repräsentanten der Stadt und des Landes NRW sowie der Presse sprach damals unter anderem Alfred Ordnung, Inhaber eines gehobenen Einrichtungshauses in Hamburg, zugleich erster Vorsitzender des Möbelfachverbands.
Es ist der 14. März 1958, der zumindest für die ersten Kölner Absolventen ebenso wichtig wie der Termin der Schuleinweihung war. “Mit dem heutigen Tage sind alle Prüfungen erledigt. Es gibt ein gutes Abendessen mit Gratiswein”, weiß das Tagebuch. Was dann folgte, verraten Jahrzehnte später zwei freundliche Schreiben des ehemaligen Absolventen: Alfred Ordnung wird den erfolgreichen Studierenden zunächst für acht Monate in das eigene Unternehmen einladen. Im Anschluss hieran kehrte Ulrich zunächst zu den Eltern nach Karlsruhe zurück, holte an der Abendschule das Abitur nach, begann in Mannheim ein BWL- und VWL-Studium. Dann allerdings nahm sein Lebenslauf eine andere Richtung: die Mutter erkrankte schwer. Ulrich Klein brach deshalb sein Studium ab und übernahm die kaufmännische Leitung eines Küchenstudios, einer Schreinerei und eines Innenausbaubetriebs.
Wir schauen erneut auf das Paket auf unserem Schreibtisch. Das Material, das wir hier inzwischen ausgebreitet haben, verrät uns, dass Ulrich Klein längst ein neues Kapitel in seinem Leben aufgeschlagen hat. Zweimal war der Mittsiebziger inzwischen in Nicaragua, zweimal in Guatemala; auch El Salvador, Honduras und Mexiko sind ihm nicht fremd. Der Einband eines kleinen Buches mit gedruckten Fotos zeigt ihn außerdem in Costa Rica in Begleitung von zwei seiner erwachsenen Kinder, einer Psychologin und einem Designer. Es ist nicht Abenteuerlust, sondern soziales Engagement im Sinne des Kinderhilfswerks nph, das Ulrich Klein hierhin führt. Was ihn bewegt, sind neue Chancen für Waisenkinder, denen oft das Nötigste fehlt. Das hält ihn jung, lässt ihn besonders lebendig werden, auch im persönlichen Gespräch. Wir wünschen Ulrich Klein, dass er sehr lange noch diese Lebendigkeit behält.
Text: Helmut Steinmetz (nach Aufzeichnungen von Ulrich Klein)
Foto: Ulrich Klein, Johannes Klein